Führung als Profession: Macht

Lesedauer beträgt 3 Minuten
Autor: Heinz K. Stahl

Heinz K. Stahl verfasste 33 Essays zum Thema „Führung als Profession“. Im fünften Teil spricht er über ein heißes Diskursthema: die Ausübung von Macht.

Der Soziologe Max Weber definiert Macht „als jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen …“ Diese Fixierung auf die Überwindung eines Widerstandes, passt jedoch nicht zur Idee einer zeitgemäßen Führung. Sie würde sich ständig in Konflikten verhaken, für die es dann nur eine Lösung gäbe, nämlich den anderen zum Aufgeben zu zwingen. Ein Diskurs, mit dem Unterschiede zwischen den Beteiligten verringert oder gar beseitigt werden könnten, stünde gar nicht zur Debatte. Ebenso wenig die Möglichkeit, dass eine der beiden Personen aus Einsehen einlenkt.

Macht ist vielmehr ein Medium, das in einer sozialen Beziehung vom Beginn bis zu ihrem Ende immer präsent ist. Wer Macht „ausüben“ will, braucht Zugang zu Machtquellen, aus denen er konkrete Machtmittel schöpfen kann. Wichtige strukturelle Machtmittel für die Führung in Organisationen sind Weisungsbefugnisse sowie die Möglichkeiten, Daten und Nachrichten zu schleusen, betriebliche Unsicherheitszonen zu kontrollieren und soziale Situationen zu definieren. Zu den Machtmitteln, die ihren Ursprung in der Person haben, gehören vor allem Persönlichkeitsmerkmale, die andere Menschen – abhängig von ihren Einstellungen und der Kultur – zu einer Gefolgschaft veranlassen können. Daneben zählen auch Expertenwissen, soziale Kontakte und die Fähigkeit zur Inszenierung zu den persönlichen Mitteln der Machtausübung.

Noch nie waren die Machtmittel in Organisationen so sehr verteilt wie heute. Die Arbeitsteiligkeit unseres Wirtschaftens ist ein maßgeblicher Grund hierfür. Und noch nie hatten die Menschen, nicht nur in Organisationen, auch den Mut, sich ihrer eigenen Machtmittel zu bedienen. Seit der in den späten 1960er-Jahren einsetzenden Wertedynamik haben disziplinäre Werte wie etwa Pflichterfüllung, Gehorsam oder Demut ihren Vorrang eingebüßt, während Selbstentfaltungswerte, also Spontaneität, Loslösung von Bestehendem oder Mut zu zivilem Ungehorsam als befreiend erlebt werden.

Wer Macht ausüben oder verhindern will, dass Macht auf ihn ausgeübt wird, muss dem Gegenüber glaubhaft signalisieren, dass er über bestimmte Machtmittel verfügt, die dem anderen Vorteile verschaffen oder Nachteile zufügen können. Eine Expertin besitzt mit ihrem raren Spezialwissen ein Machtmittel, das heute unter Umständen gleichwertig ist mit der Legitimationsmacht eines Abteilungsleiters. Die Assistentin, die den Zugang zu ihrem Chef steuert, der Netzwerker, der sich auf eine Vielfalt an Kontakten berufen kann, der Meister, der souverän eine kritische Maschine beherrscht, die Pflegekraft mit ihren unersetzlichen Fähigkeiten des Helfens, sie alle verfügen über Machtmittel, welche die traditionelle Vorstellung der einseitigen Durchsetzung des Willens infrage stellen.

Macht ist unter diesen Bedingungen das Ergebnis eines sozialen Aushandlungsprozesses, in den der (scheinbar) Machtüberlegene und der (scheinbar) Machtunterlegene ihre Machtmittel einbringen. Dabei werden daher die jeweiligen Machmittel wechselseitig auf ihre mögliche Wirkung geprüft. So wird z.B. der Sachbearbeiter versuchen, die von der Abteilungsleiterin in die Aushandlung eingebrachten Machtmittel auf ihre „Echtheit“ einzuschätzen: Vielleicht blufft die Chefin nur? Vielleicht sind das nur die üblichen leeren Drohungen oder Versprechungen? Was geschieht, wenn ich Widerstand leiste? Welche Machtmittel kann ich als scheinbar Machtunterlegener am zweckmäßigsten einsetzen? Auch die Abteilungsleiterin wird interpretieren, abwägen, eventuell vorpreschen, ein besonderes Machtmittel im Moment noch zurückhalten und so fort.

Dieser Aushandlungsprozess kann auch in einer Pattsituation enden. Für den als machtunterlegen in den Aushandlungsprozess gestarteten Sachbearbeiter bedeutet dies zumindest einen Zeitgewinn. Die scheinbar machtüberlegene Abteilungsleiterin muss hingegen entscheiden, ob, wann und wie sie Aushandlungsprozess fortsetzen soll. Macht ist somit nicht mehr etwas Statisches wie Besitz, sondern ein dynamisches Phänomen mit offenem Ausgang. Die vor dem Aushandlungsprozess getroffenen Einschätzungen in „machtüberlegen“ oder „machtunterlegen“ können erst nach dem Prozess bestätigt oder widerlegt werden.

Eine solche Auffassung von Macht nötigt Menschen mit Führungsverantwortung eine Haltung ab, die gar nicht selbstverständlich ist: Bescheidenheit. Zudem verliert das Wort „Macht“ etwas von seiner Negativität und rückt näher an das englische power und das französische pouvoir.

Prolog zum Thema „Führung als Profession“ von Heinz K. Stahl

„Wer führen will, muss in erster Linie fachlich kompetent sein.“ Dieses Credo unseres Kulturkreises hat seinen Ursprung in den Handwerkszünften des Mittelalters. Wer es vom Lehrling über den Gesellen zum Meister gebracht hatte, genoss gesellschaftliches Ansehen. Hohes fachliches Können war eine wichtige Voraussetzung, um in den späteren Manufakturen die Führung im Sinne des „Vorangehens“ und „Bestimmens“ zu übernehmen. Diesem Vorrang konnte auch die Erfindung der Bürokratie und des Managements zu Beginn des 20. Jahrhunderts wenig anhaben.

Heute stehen wir vor der Situation, dass „Führung“ immer noch ein eine Art Nachgedanke ist. Der beste Verkäufer wird Verkaufsleiter, der geübteste Techniker Betriebsleiter, der kenntnisreichste Zahlenjongleur Leiter des Controllings. Parallelen im Gesundheitswesen müssen nicht eigens erwähnt werden. Was sie für Führung brauchen, werden sich die Auserwählten schon irgendwie zulegen. Konfrontiert mit den Umbrüchen in der heutigen Arbeitswelt, etwa die ungebremste Pluralisierung der Wertvorstellungen und Motive, sollen sich Führungskräfte plötzlich mit dem Menschen als Subjekt und nicht als Objekt auseinandersetzen. Psychologie, Soziologie und Philosophie drängen sich auf. Überforderung macht sich breit.

Gibt es eine Leitidee, um Führung unter diesen Umständen eine Kontur zu verleihen? Ja, sie lautet „Führung als Profession“. Profession ist der Gegenpol zum Nebenbei, ist mehr als der „Job“, ist ein Bekenntnis zu Könnerschaft und Verantwortung. Dieses Buches möchte die geschätzte Leserschaft dazu anregen, diese Idee in ihrem eigenen beruflichen Kontext zu unterstützen.

Führung als Profession von H.K. Stahl, Schriftenreihe zum Österreichischen Gesundheitswirtschaftskongress, Band 1, Springer Verlag-GmbH, Wien, 2022

Der Essay zum Thema Macht erschien in Kapitel 1 „Grundlegendes“.

Heinz K. Stahl, ao. Univ.-Prof., Dr. rer. soc. oec.,
Chemieingenieur; 24 Jahre Managementpositionen im Unilever-Konzern in Österreich, Großbritannien, Australien, den Niederlanden und Deutschland. 26 Jahre als Verhaltenswissenschaftler in Lehre und Forschung; Research Associate, Interdisziplinäres Institut für Verhaltenswissenschaftlich orientiertes Management, Wirtschaftsuniversität Wien; Wissenschaftlicher Leiter Executive-Education-Programme, Management Center Innsbruck; Wissenschaftlicher Partner, Lehrstuhl Wirtschafts- und Betriebswissenschaften, Montanuniversität Leoben; Forschungspartner Department Gesundheit, Fachhochschule Burgenland; zahlreiche Publikationen, Autor und Herausgeber, u. a. der Reihe „Fokus Management und Führung“, ESV Verlag Berlin. Forschungspartner des Zentrums für systemische Forschung und Beratung, Heidelberg.
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