Fabrice Lehmann erblickt seine Zielperson, kurz nachdem sie ihr Haus in einem Pariser Vorort verlassen hat. Lehmann, Detektiv seit über 30 Jahren, nimmt die Verfolgung auf. Der Mann, den er im Visier hat, ist angezogen, als wäre er auf dem Weg zu seinem Job in der Finanzbranche. Doch bei der Arbeit ist er seit Juni krankgeschrieben, wie Lehmann von seinem Auftraggeber weiß.
Neuerdings hat der Detektiv immer häufiger Fälle wie diesen: Arbeitgeber heuern ihn an, um krankgeschriebene Angestellte beschatten zu lassen. Sie vermuten, dass ihre Mitarbeiter krankfeiern. Das tun Experten zufolge immer mehr Menschen in Frankreich. Wie viele genau, sei schwer zu sagen. Doch der Krankenstand sei seit 2012 um 60 Prozent gestiegen – und damit im Gleichklang wohl auch der Attest-Betrug.
In Frankreichs öffentlichem Dienst fielen nach jüngsten Zahlen der Generaldirektion für Finanzen im Jahr 2022 14,5 Fehltage an, im Privatsektor 11,7 Tage. Pro Krankheitstag zahlt die Sozialversicherung 41,47 Euro, maximal drei Jahre lang. Der Arbeitgeber legt den Rest des Gehalts obendrauf. Den französischen Staat kostet das über 10 Milliarden Euro pro Jahr – Geld, das in der chronischen Haushaltskrise fehlt.

Der Staat versucht zwar, den Betrug zu bekämpfen. Immer mehr Arbeitgeber greifen aber auf Privatdetektive zurück, um ihre Angestellten zu entlarven. Die Nachrichtenagentur Reuters sprach mit fünf Privatdetektiven, die alle einen deutlichen Anstieg an Aufträgen von Arbeitgebern verzeichnen. Manche Detekteien gaben demnach sogar ihr klassisches Geschäft wie das Aufspüren untreuer Ehepartner ganz auf, um sich auf die vermeintlich kranken Angestellten zu konzentrieren.
Die Gründe für den Betrug mit Krankschreibungen seien unterschiedlich, sagt Fabrice Lehmann. Manche Arbeitnehmer arbeiteten parallel für Konkurrenten. Andere nutzten die Krankheitstage, um ihre eigenen Firmen zu gründen. Lehmanns Mitarbeiter Patrice Le Bec sagt, er habe aber auch schon beobachtet, wie sich jemand krankmeldete und direkt zum Flughafen in den Urlaub fuhr.
Auf staatlicher Seite ist das Problem bekannt. Der ehemalige Premierminister Francois Bayrou hatte es in einer Rede im Juli direkt angesprochen: Ihm zufolge sind mehr als die Hälfte der Krankschreibungen, die über 18 Monate dauern, ungerechtfertigt. Einen Beleg dafür nannte er nicht. Bayrou wollte auch mit der Bekämpfung von Betrug in diesem Bereich die Ausgaben im Gesundheitswesen senken. Im Streit über den Haushalt 2026 verlor er bei einer Vertrauensabstimmung Anfang September seinen Posten.
„Es hat keinen Sinn, wir können sie nicht entlassen“
Auch die gesetzliche Krankenkasse hat sich des Problems angenommen. Sie habe 2024 Krankschreibungsbetrug in Höhe von 42 Millionen Euro verhindert, teilt die Kasse mit. Das sei mehr als doppelt so viel wie im Jahr zuvor. Die Zahl erfasst aber vermutlich trotzdem nicht das tatsächliche Ausmaß des Problems, da die Kasse erst 2022 mit ihren Kontrollen begann – und weil viele Ermittlungen im Auftrag von Firmen über Privatdetektive laufen. Und die Detektive sehen ein weiteres Problem: Es sei schwierig, bei Betrug den Arbeitnehmer oder den krankschreibenden Arzt tatsächlich zu sanktionieren, sagen sie.
„Wir bauen Fälle auf, wir erwischen Leute dabei, wie sie woanders arbeiten – bestraft wird niemand“, sagt Privatdetektiv Bruno Boivin. Er sei von einer großen Transportfirma beauftragt worden, wo in einer Abteilung ein Drittel der Belegschaft krankgeschrieben war. Irgendwann habe der Kunde seinen Auftrag an den Detektiv beendet mit den Worten: „Es bringt nichts, wir können sie nicht entlassen“. Derzeit versucht Boivin einen Angestellten zu finden, der seit zehn Jahren krankgeschrieben ist, aber alle drei Jahre seinen Firmenwagen erneuern lässt.
Vom linken politischen Lager werden die Vorwürfe an Arbeitnehmer zurückgewiesen – so von Sabrina Ali Benali, einer Notärztin, die die Gesundheitsvorschläge der Partei Unbeugsames Frankreich mit verantwortete. Sie räumt zwar ein, dass es selbstverständlich Menschen gebe, die fadenscheinige Gründe für eine Krankschreibung vorschöben. Ein weit verbreiteter Betrug sei allerdings „pure Fantasie“. Teil des Problems sei die Führungskultur in Frankreich, sagt Ökonom Jean-Claude Delgenes: „Wir haben in Frankreich einen zunehmenden Arbeitsdruck und einen autoritären Führungsstil, der nicht mehr dem Bedürfnis der Mitarbeiter entspricht.“
Detektiv Fabrice Lehmann folgt seiner Zielperson weiter in den Pendlerzug nach Paris. Der Verdächtige verbringt die Fahrt über seinen Laptop gebeugt, sein Blick wandert hin und wieder zu Lehmann hinüber. Beim Umstieg in die Pariser Metro muss Lehmann dichter an ihn heran, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Er folgt ihm bis in die Bahn, doch in dem Moment, als die Türen schließen, steigt der Verdächtige aus. Er hat Lehmann abgeschüttelt.
(APA/Reuters/red.)


