Der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach will mit einer umfassenden Reform die stationäre Überversorgung seines Landes in neue Bahnen zwängen. Sein politisches Lebenswerk ist dabei, sich in den Verstrickungen aus Bundes- und Länderkompetenzen zu verlieren.
Das ambitionierte Reformprojekt des deutschen Gesundheitsministers Karl Lauterbach (SPD) drohte im Kompetenzstreit zu versanden. Im Bundestag legte er daher im Mai einen Entwurf des Krankenhausreformgesetzes zur Beschlussfassung vor, zu welchem im föderalen Bundesrat nach Rechtsmeinung der zuständigen Ministerien keine Zustimmungspflicht gegeben ist.
Zwang der Kompromisse. Das Fallzahlen-System führt in Deutschland trotz Bettenüberangebot zu krassen regionalen Versorgungsmängeln.
Die Lauterbach-Reform möchte Mittel gleichmäßiger verteilen, was mittelfristig zu Klinik-Schließungen führen wird. Die Länder laufen Sturm.
Stationäre Überversorgung
Unstrittig sind die Notwendigkeit der Reform und deren Ziele, welche von einem Expertenrat ausformuliert wurden. Die deutsche Krankenhausstruktur bietet mit mehr als 1700 Häusern eine (vielleicht nur mit Österreich vergleichbare) stationäre Überversorgung an. Mangel an Fachpersonal und stark rückläufige Fallzahlen haben aber zur Folge, dass derzeit jedes dritte Krankenhausbett unbelegt ist. Dies wiederum bringt wegen der strikten Fallpauschalen-Finanzierung viele der Krankenhäuser an und über den Rand der Insolvenz. Verzweifelte Versuche, besonders in kleineren Kliniken, durch medizinische Angebote mit attraktiven Fallpauschalen den wirtschaftlichen Kollaps zu vermeiden, enden oft in suboptimaler Ergebnisqualität. Um die von der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) befürchtete Insolvenzwelle bei regionalen Kliniken abzuwenden und diese für die flächendeckende medizinische Versorgung zu erhalten, will Lauterbach den Typus des Level-1-Krankenhauses gesetzlich verankern. In diesen Krankenhäusern sollen Trauma- und Notfallversorgung, Schlaganfallbehandlungen, Geburtshilfe und Kinderheilkunde sowie Intensivmedizin angeboten werden, jedoch keine Krebsbehandlungen oder spezielle Chirurgie, wie zum Beispiel Wirbelsäulenoperationen. Durch finanzielle Zuschläge sollen Level-1-Krankenhäuser in Zukunft unterstützt und damit die Daseinsvorsorge auch in ländlichen Regionen sichergestellt werden. Mit der Sonderform der Level-1-Krankenhäuser wird zudem beabsichtigt, die sektorale Aufsplittung zu überwinden und niedergelassene Ärzte und Pflegepersonen in die stationäre und ambulante Versorgung in diesen Häusern mehr einzubinden.
Levels sind vom Tisch
Neben den Level-1-Krankenhäusern für die medizinische und pflegerische Basisversorgung sollten Level-2-Häuser in der Regel- und Schwerpunktversorgung zusätzliche Leistungen anbieten. Zur Maximalversorgung des Level 3 gehörten nach ursprünglichen Plänen beispielsweise Universitätskliniken. Diese Zuweisung der Krankenhäuser zu den drei Versorgungslevels wurde von den Ländervertretern abgelehnt. Kliniken haben aber jeweils strukturelle Mindestanforderungen zu erfüllen und müssen ihr Leistungsspektrum nach zugewiesenen 65 Leistungsgruppen erfüllen. Spitäler, welchen die strukturellen Voraussetzungen für eine bestimmte Leistungsgruppe fehlen, können diese Leistungen künftig auch nicht abrechnen. Die Erfüllung der Qualitätskriterien, wozu auch die technische Ausstattung und die Qualifikation des medizinischen und pflegerischen Personals gehören, soll bundesweit einheitlich kontrolliert werden. Anstelle der Level-Matrix ist nun über ein flankierendes Krankenhaustransparenzgesetz jedes Krankenhaus verpflichtet, seine Struktur- und Leistungsdaten aktuell offenzulegen. Über die Internetseite https://bundes-klinik-atlas.de hat jeder Bürger und jede Bürgerin nun die Möglichkeit, sich über das Leistungsspektrum jeder Klinik im Detail zu informieren.
Auf Werbetour. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und Petra Köpping, Sächsische Gesundheitsministerin, sprechen am 6. August mit Mathias Hänel (r.), Chefarzt der Klinik für Innere Medizin III, im Klinikum Chemnitz. Der Gesundheitsökonom mit Ministeramt sucht Unterstützung, wo er sie kriegen kann.
Länder in der Pflicht
Die mitunter konfliktreiche Entscheidung, welche Klinik für welche medizinische Leistungen ausgestattet wird, liegt allein bei den Ländern, die im Rahmen ihrer budgetären Grenzen das bedarfsgerechte Optimum finden müssen. Klinikzusammenschlüsse, Kooperationen, aber auch fallweise Klinikschließungen werden notwendige Maßnahmen sein, um dieses Versorgungsoptimum zu erreichen. Den damit erzwungenen Strukturwandel sieht Lauterbach mit dem Argument der erforderlichen Qualitätsverbesserung als Kernelement seines Reformpaketes für unumgänglich an. Die Länder mit ihrer Zuständigkeit für die Krankenhausplanung sehen darin allerdings einen unzulässigen Eingriff in ihre Kompetenzen. Ländervertreter kritisieren auch das Fehlen einer Auswirkungsanalyse der Strukturveränderungen. Lauterbach kann diese Analyse jedoch nur liefern, wenn die Maßnahmen der Länder bekannt sind. Das Hauptargument der Länder gegen den Zeitplan der Reform besteht jedoch darin, dass sie befürchten, etliche Kliniken könnten aufgrund ihrer derzeitigen prekären wirtschaftlichen Situation die Reform gar nicht mehr erleben und vorher insolvent werden. Sie fordern daher unmittelbare Unterstützungsleistungen des Bundes zur Bestandssicherung gefährdeter Kliniken, was die Bundesregierung jedoch kategorisch ablehnt. Lauterbach sieht damit den Veränderungsdruck geschwächt, welcher dringend benötigt wird, um möglichst rasch die deutsche Krankenhausstruktur zukunftsfähig zu machen. Wenn während dieses Wettlaufs mit der Zeit einzelne Krankenhäuser vom Netz gehen würden, erachtet der Gesundheitsminister mit dem Blick auf die existierende Überversorgung dies nicht als das größte Problem, denn ohne Reform würden noch mehr Krankenhäuser ungesteuert Insolvenz anmelden müssen.
Gegen die Ökonomisierung der Medizin
Dem nachvollziehbaren Widerstand der Länder gegen die politisch undankbare Umsetzungspflicht des strukturellen Umbaus will Lauterbach mit finanziellen Anreizen begegnen. Zum ersten soll mit der Reform den außer Kontrolle geratenen ökonomisierenden Folgen der vor zwanzig Jahren von Professor Lauterbach selbst forcierten Fallpauschalen Einhalt geboten werden. Mit Vorhaltepauschalen von bis zu 60 Prozent des jeweiligen Klinikbudgets will man medizinisch ungerechtfertigte Fallzahlsteigerungen vermeiden, die nur aus wirtschaftlichen Gründen erbracht werden. 40 Prozent der Klinikeinnahmen sollen aber weiterhin aus den Fallpauschalen lukriert werden. Lauterbach nennt diese Aufteilung den „soft spot“ guter Qualität, weil damit ein gesundes Ziel an Fallzahlen der Absicherung eines nach tatsächlichem Bedarf reduzierten Leistungsangebotes gegenübersteht. Mit der Einführung von Vorhaltepauschalen wird gleichzeitig auch viel bürokratischer Aufwand für die Überprüfung der Leistungsabrechnung entfallen, wodurch wiederum ärztliche Arbeitszeit freigespielt werden könnte. Zum zweiten verspricht der Gesundheitsminister eine Liquiditätshilfe von sechs Milliarden Euro, welche nach Verabschiedung des Reformgesetzes vorzeitig an die gefährdeten Häuser ausbezahlt werden könnten. Zusätzlich werden die Landesbasisfallwerte angehoben, um die finanzielle Situation der Krankenhäuser zu verbessern. Weitere sechs Milliarden Euro sollen den Ländern durch das Vorziehen der Pflegebudgets zur Verfügung stehen.
Wer wird zur Kasse gebeten?
Dass die strukturelle Umgestaltung des deutschen Krankenhaussystems viel Geld kosten wird, ist allen klar. Für die Finanzierung der Lauterbach’schen „Revolution“ steht dafür ab 2026 ein Transformationsfond von 50 Milliarden Euro im Zeitraum von zehn Jahren zur Verfügung. Gespeist soll dieser Fond zur Hälfte von den Ländern werden und zur anderen Hälfte aus der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV). Damit macht sich Karl Lauterbach zwangsweise die nächste Front auf, denn die Krankenkassen befürchten massive Mehrausgaben und Beitragssteigerungen. Dies wird vom Minister gar nicht in Abrede gestellt, er ist nur der Meinung, dass die damit erreichte Qualitätsverbesserung den Beitragszahlern diesen Preis wert sein sollte. Außerdem hofft er auf Einsparpotenziale durch die gestraffte Krankenhausstruktur.
10 Jahre Umbau
Der weitere Fahrplan des Reformgesetzes sieht vor, dass nach der Sommerpause im Bundestag die zweite und dritte Lesung des Gesetzesentwurfes stattfindet und schließlich die Einigung erfolgen kann und das Gesetz in Kraft tritt. Erst dann kann der auf zehn Jahre geschätzte Transformationsprozess der deutschen Krankenhausstruktur in die Umsetzungsphase kommen. Einige Länder, am lautstärksten der Freistaat Bayern, haben jedoch bereits mit verfassungsrechtlichen Klagen gedroht, was wiederum Sand in die Mühlen der Reform bringt.
Dem Gesundheitspolitiker und renommierten Wissenschaftler Karl Lauterbach wird selbst von seinen Kritikern eine fundierte Systemkenntnis und Problemanalyse zugebilligt. Wenn er davon ausgeht, dass die Reformgesetzgebung noch in der laufenden Legislaturperiode abgeschlossen werden kann, sind jedoch manche Hürden zu überwinden. Aus österreichischer Sicht ist die Beobachtung der deutschen Krankenhausreform weniger von inhaltlichem Interesse (denn die Problemlagen unterscheiden sich nicht grundsätzlich). Für österreichische Fonds-Krankenhäuser hat der Gesetzgeber die Möglichkeit einer Insolvenz ausgeschlossen: Die Gebietskörperschaften sind zur Deckung der Betriebsabgänge aus dem LKF-System verpflichtet. Damit ist der ökonomische Druck auf die heimischen Spitäler deutlich geringer als in Deutschland – der Leidensdruck für systematische Veränderungen vielleicht aber auch.
Die Lauterbach-Reform ist ein typisches Beispiel für den Umgang mit dem systemischen Konflikt zwischen zentralistischer Steuerung und regionaler Verantwortung. Das altbekannte Ringen von föderaler und Bismarck’scher Machtverteilung gegen zentralistisches Machtmonopol nach Beveridge geht in Deutschland in die nächste Runde. Entscheidend wird aber die Geschwindigkeit sein, mit der ein Systemwandel stattfindet. Nicht nur Lauterbach sieht die größte Gefahr für das deutsche Gesundheitssystem in den verschleppten Reaktionen auf eine aus der Zeit gefallene Krankenhausstruktur, die künftig weder personell noch finanziell in der Lage sein wird, ihre Aufgaben zu erfüllen.
Mix aus Vorhalte- und Fallpauschalen
Bisher werden im deutschen Gesundheitssystem Krankenhäuser hauptsächlich über Fallpauschalen (DRGs, Diagnosis Related Groups) finanziert. Das bedeutet, dass die Häuser für bestimmte Therapien einen festgelegten Betrag erhalten, unabhängig von den tatsächlichen Kosten der Behandlung. Dieses System hat jedoch dazu geführt, dass deutsche Krankenhäuser dazu neigen, immer mehr Fälle zu behandeln und dabei lukrative Behandlungen vorzuziehen, während weniger rentable Leistungen nicht forciert wurden.
Vorhaltepauschalen sind ein wichtiger Teil der anstehenden Klinikreform. Krankenhäuser erhalten eine feste Pauschale für das „Vorhalten“ bestimmter medizinischer Leistungen und Infrastrukturen. Das bedeutet, sie bekommen bis zu 60 Prozent ihres Budgets dafür, dass sie bestimmte Kapazitäten und Dienstleistungen bereithalten, unabhängig davon, wie oft diese in Anspruch genommen werden. Durch Vorhaltepauschalen sollen insbesondere kleinere Krankenhäuser und solche in ländlichen Regionen besser unterstützt werden. Diese Häuser müssen bestimmte Notfall- und Grundversorgungen gewährleisten, auch wenn sie weniger Patienten behandeln, was bisher unter dem DRG-System wirtschaftlich problematisch war. 40 Prozent der Klinikeinnahmen sollen aber weiterhin aus den Fallpauschalen lukriert werden.