Frauen im Gesundheitssystem: „Freiwilligkeit bringt keine Veränderung“

Lesedauer beträgt 2 Minuten
Autor: Josef Ruhaltinger

Evelyn Holley-Spiess, Journalistin und Kommunikationsexpertin, hat ein Buch geschrieben, das wichtig für ein gendergerechtes Gesundheitssystem ist: „Jetzt reden wir! – Wie Frauen das Gesundheitssystem neu denken“.

Frau Holley-Spiess, Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass 90 Prozent der Primariate in Österreich männlich besetzt sind. Interpretieren Sie dies als bewusste Diskriminierung oder ist dies automatisierte Bequemlichkeit?
Evelyn Holley-Spiess: Es ist eine Mischung aus beidem. Die Benachteiligung von Frauen zieht sich quer durch das Gesundheitssystem. Und das darf als strukturelle Benachteiligung gesehen werden, die auch strukturell beseitigt werden muss.

Evelyn Holley-Spiess ist Sozial- und Gesundheitsjournalistin. Sie war Gründungsmitglied bei der Tageszeitung „WirtschaftsBlatt“. In der Folge war sie Kommunikationschefin der Wiener Gebietskrankenkasse und danach als PR- und Kommunikationsexpertin u.a. in der Ärztekammer tätig. Die Wienerin hat an der Universität Wien Publizistik und Kommunikationswissenschaften studiert.

Was ist damit gemeint?
Die strukturelle Diskriminierung von Frauen im Gesundheitssystem ist evident. Circa 80 Prozent aller im Gesundheitssystem Beschäftigten sind weiblich. Laut der Ärztestatistik 2022 liegt der Frauenanteil unter den Turnusärztinnen und Ärzten über 55 Prozent. Auch bei niedergelassenen Allgemeinmediziner:innen stellen die Frauen bereits die Mehrheit. Es gibt aber nach wie vor Bruchstellen, die Frauen bei ihrer Karriere bremsen. Kinder als Karriereknick – das gilt leider auch im Jahr 2024 noch. Auch die Betreuung und Pflege im privaten Bereich ist weiblich. Frauen übernehmen hier zwischen 30 und 50 viele Aufgaben. Das ist die Lebensphase, in der Männer Karriere machen.

Jetzt sind wir wieder bei den Primariaten …
Wir haben für unser Buch eine Umfrage unter 100 Entscheidungsträgerinnen im heimischen Gesundheitssystem gemacht und mit ausgewählten Frauen über ihre Wahrnehmungen und Erlebnisse gesprochen. Eine unserer Gesprächspartnerinnen hat beschrieben, wie es ist, wenn die Hierarchiepyramide in einem typischen österreichischen Krankenhaus auf dich herunterschaut. Auf der untersten Ebene finden Sie 80 bis 90 Prozent Frauen – viele mit Migrationsbiografie. Dabei handelt es sich beispielsweise um Reinigungskräfte. Auf der nächsten Stufe, der Pflege, treffen Sie wieder zum Großteil auf Frauen, ebenfalls meist mit Migrationshintergrund. Je höher man in der Pyramide steigt – also in der Ärzteschaft aber auch in den leitenden Ebenen im Verwaltungsbereich –, desto mehr wendet sich das Blatt – sowohl was Frauen als auch was Menschen mit Migrationsgeschichte angeht. Das gleiche Muster finden Sie übrigens auch in der Ärztekammer. Keine der neun Länderkammern wird von einer Frau präsidiert.

In Ihrem Buch fordern die Befragten immer wieder eine Frauenquote für Spitzenpositionen. Reicht dies aus, um Ihren Anspruch zu unterstützen?
Die Forderung nach einer Quote für Spitzenpositionen ist häufig gekommen – von Frauen mit ganz verschiedenen beruflichen Karrieren. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Freiwilligkeit allein keine Veränderung bringt. Wir sehen das in Unternehmen, die in ihren Zieldefinitionen auch Vorgaben für einen Prozentsatz weiblicher Führungskräfte haben. Dort geht die Entwicklung schneller voran.

Was wäre in einem gendergerechten Gesundheitssystem anders?
Ein Kind darf kein automatischer Karrierebruch mehr sein. Die fehlenden Betreuungsmöglichkeiten in Österreich sind oft angesprochen worden. Ganz wesentlich ist aber auch die Gesundheitsversorgung von Frauen: Auch hier gibt es gravierende Benachteiligungen.

Das führt mich zur Gender-Medizin: Stellen sich Wissenschaft und Medizin gegenüber den speziellen Bedürfnissen der Frauen taub?
Den Eindruck könnte man gewinnen. Das beginnt bei der Forschung, zieht sich über die Entwicklung von Medikamenten bis hin zur Lehre. Ein Beispiel: Es ist seit Langem bekannt, dass Frauen andere Herzinfarktsymptome aufweisen als Männer. Und trotzdem landen viele mit derartigen Anzeichen zuerst beim Orthopäden. Hier gilt es noch viel aufzuholen.

Jetzt reden wir! – Wie Frauen das Gesundheitssystem neu denken
Susanne Erkens-Reck/Evelyn Holley-Spiess/Katrin Grabner; Ampuls Verlag, 2024
ISBN: 978-3-9505385-3-3

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