Südkorea: Aufruhr im Land der Morgenstille

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Autor: Heinz Brock

In Südkorea haben im Frühjahr 90 Prozent aller Jungärzte gekündigt. Die Gründe sind nicht alltäglich: Sie protestieren gegen die 60-prozentige Ausweitung der medizinischen Studienplätze.

In der Heimat von Samsung, LG und Hyundai ist die Internetgeschwindigkeit weltweit die höchste. Südkorea gilt nicht umsonst als eines der technologisch fortschrittlichsten Länder der Welt. Die Lebenserwartung ist hoch und die Fertilitätsrate niedrig. Die Bevölkerung überaltert in rasantem Tempo. Das Land hat ein hocheffizientes und effektives Gesundheitssystem aufgebaut, das von den Menschen in einem unvergleichlich hohen Maße in Anspruch genommen wird. Obwohl der Gesundheitszustand der koreanischen Bevölkerung keineswegs schlechter ist als der der österreichischen, werden Ärzte individuell wesentlich häufiger konsultiert. Die große Präferenz der Koreanerinnen und Koreaner für Gesundheit und Gesundheitsleistungen wird aber durch eine vergleichsweise geringe personelle Ausstattung mit Fachpersonal bedient – die Ärztedichte ist zum Beispiel nur knapp halb so groß wie in Österreich. Das Institut für Gesundheit und Soziales schätzt, dass infolge der demografischen Entwicklung bis 2035 mehr als 27.000 Ärzte in Südkorea fehlen werden. Besonders groß ist der Ärztemangel außerhalb der Metro­polen. In vielen ländlichen Regionen ist es üblich, dass Pflegekräfte Rezepte ausstellen oder einfache medizinische Eingriffe vornehmen. Es fehlt an Ärzten.

Empörung. Ein Arzt mit Maske protestiert gegen die jährliche Zulassungsquote an Südkoreas medizinischen Universitäten.

Ausbildungsoffensive und Kündigungswelle

Der Plan des Präsidenten Yoon Suk-yeol ist nicht abwegig, dem vermeintlichen Ärztemangel durch eine Erhöhung der jährlichen Zulassungen zum Medizinstudium von 3.000 auf 5.000 Plätze zu begegnen. Die Reaktion der Ärzteschaft darauf erfolgte in einzigartiger Vehemenz: Über 90 Prozent der 13.000 Ärztinnen und Ärzte in Ausbildung kündigten aus Protest ihren Job. Streiken dürfen Ärzte in Südkorea nicht, deshalb haben sie ihre Stelle aufgegeben. Mit dem Ausstand von etwa neun Prozent der praktizierenden Ärzteschaft geriet die Gesundheitsversorgung in eine schwere Krise. Vor allem in den großen Krankenhäusern machte sich das Fehlen der Jungärzte bemerkbar, da nun Fachärzte die Aufgaben der Assistenzärzte übernehmen mussten. Lange Wartezeiten und Überlastung des verbliebenen Personals sind die spürbaren Folgen.

Die Protestierenden führen durchaus plausible Argumente an, wenngleich ihr kompromissloses Vorgehen doch eher an den Geist ostasiatischer Kampfsportarten erinnert. Die Aufstockung der Studierendenzahlen würde erst mit einer Latenz von zehn Jahren versorgungswirksam werden können und löse damit keine derzeitigen Probleme. Die Knackpunkte lägen hauptsächlich darin, dass das koreanische Gesundheitssystem Krankenhausleistungen so billig anbietet, dass die Menschen sie bei jeder Bagatellerkrankung nutzen.

Damit fordert die koreanische Ärzteschaft eine Maßnahme, welche auch von der österreichischen Ärztekammer derzeit als Ausweg aus der Misere propagiert wird, nämlich die Patientenlenkung. Eine solche ist da wie dort kaum systemwirksam, da der Zugang zu allen Gesundheitseinrichtungen durch eine einheitliche Pflichtversicherung nahezu uneingeschränkt möglich ist und die Gatekeeping-Funktion von keiner Berufsgruppe oder Institution wahrgenommen wird. Folglich müssen die Menschen selbst ihren Weg zum „Point of Service“ finden und steuern häufig als erstes die Krankenhäuser an. Wem das österreichische Gesundheitssystem als zu krankenhauslastig erscheint (was es nach Meinung vieler Experten wohl auch ist), der mag einen staunenden Blick auf die doppelt so hohe Spitalsbettendichte in Korea werfen. Die dortigen Krankenhäuser werden größtenteils von privaten Trägern betrieben und rechnen über Einzelleistungsvergütung mit der National Health Insurance (NHI) ab. Eine Vergütung über ein Diagnose-bezogenes Schema (DRG) erfolgt nur bei sieben Krankheits-Kategorien. Gegen eine Ausweitung des DRG-Modells wehren sich die privaten Betreiber standhaft. Weiters werden 17 diagnostische Kategorien der Langzeitpflege als Tagsätze vergütet. Diese Finanzierungsformen münden in eine durchschnittliche Krankenhaus-Verweildauer von exorbitantem Ausmaß.

Die NHI, in der seit 2000 alle Versicherungen zu einem einzigen Finanzier mit einheitlicher Versichertenstruktur und einheitlichem Leistungspaket zusammengefasst sind, schreibt allen Gesundheitsdienstleistern verbindliche Tarife vor. Diese sind allerdings nicht kostendeckend, weshalb sich die privaten Anbieter genötigt sehen, Behandlungen durchzuführen, welche nicht im Versicherungskatalog enthalten sind. Auch die allgemein üblichen privaten Zuzahlungen, die koreanische Haushalte erheblich belasten, sind für außertarifliche Gesundheitsleistungen nicht limitiert und können für sozial schwächere Bevölkerungsschichten zu einer existenziellen Bedrohung werden.

Lockende Privatleistungen

Für das Einkommen der Ärztinnen und Ärzte wiederum sind die privat zu bezahlenden Behandlungen eine essenzielle Quelle, wofür auch innovative Angebote entwickelt werden. Deshalb drängen viele junge Mediziner in die einträgliche Schönheitschirurgie, während Fächer wie Kinderheilkunde oder die Notfallmedizin kaum Nachwuchs finden. Allein in Seoul praktizieren 2.000 plastische Chirurgen – zwanzig Prozent der Südkoreanerinnen und Südkoreaner haben sich bereits einer plastischen Operation unterzogen, der am häufigsten durchgeführte Eingriff ist die Blepharoplastik. Weniger lukrative Fächer, die ein hohes Risikopotenzial für Behandlungskomplikationen und -fehler bergen, werden in der Berufswahl gemieden. Die große Anspruchshaltung der koreanischen Patienten äußert sich auch in einer hohen Klagerate für Behandlungsfehler: Diese ist 15 mal höher als in Japan und 566 mal höher als in Großbritannien.

Ein attraktiver, wiewohl anspruchsvoller Beruf mit überdurchschnittlichem Einkommen kann also rasch unattraktiv werden, wenn der private Sektor mit besseren Arbeitsbedingungen und höheren Einkommensmöglichkeiten lockt. Allerdings scheint der Markt für Privatmedizin in Korea nicht unbegrenzt aufnahmefähig zu sein. Der Mediziner-Verband KMA und andere Lobbygruppen finden, dass Korea genug Ärzte hat. Bereits im Jahr 2000 verhinderte ein Ärzteprotest die Aufstockung der Studienplätze durch die linke Vorgängerregierung. Unter diesem Aspekt erscheint der Widerstand der Mediziner gegen die Erhöhung ihrer Anzahl rein aus Angst vor dem härteren Wettbewerb zu erfolgen. Man wird in Österreich an die vor gar nicht so langer Zeit propagierten Warnungen der Ärztekammer vor der drohenden Ärzteschwemme erinnert.

Der Konflikt der koreanischen Ärzteschaft mit der konservativen Regierung befindet sich in einer nahezu ausweglosen Eskalationsstufe. Die Positionen sind verhärtet: Die Ausschreibungsfrist für die Nachbesetzung der vakanten Assistenten-Stellen in den Krankenhäusern musste von der Regierung verlängert werden, da sich für die 7.645 Stellen nur 104 Bewerber gemeldet hatten. Die Kündigungswelle der Jungmediziner erfolgte als Reaktion auf Repressionen gegen Streikende und Funktionäre. Präsident Yoon Suk-yeol wiederum erhoffte sich mit der in der Bevölkerung sehr populären Forderung nach mehr Ärzten einen Vorteil bei den Parlamentswahlen. Die medizinischen Berufsverbände fühlen sich von der Regierung nicht ernst genommen. Besonders unter den Ausbildungsärzten, die als billige Systemerhalter eingesetzt werden und für die Wochenarbeitszeiten von 100 Stunden nicht ungewöhnlich sind, hat sich ein beträchtliches Frustrationspotenzial aufgebaut.

Unnachgiebig. Passagiere verfolgen an einem Bahnhof in Seoul die Rede des Präsidenten Yoon Suk-yeol zur Gesundheitsreform.
Er kritisiert das „Kartell“ der Mediziner.

Regierung baut Druck auf

Ihre Arbeitsverweigerung trifft das System daher an einer besonders vulnerablen Stelle. Die Regierung unter Präsident Yoon Suk-yeol zeigt nach wie vor keinerlei Bereitschaft, über ihren Plan zu verhandeln, und übt Druck auf Ärztevertreter und Ärzte aus, denen sie den Entzug ihrer Lizenzen androht, wenn sie nicht an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Da die Parlamentswahlen zudem an die liberale Opposition verloren gingen, ist der Handlungsspielraum für den konservativen Präsidenten während seiner verbleibenden Amtszeit eingeschränkt. Allerdings sieht auch der liberale Wahlgewinner keine Alternative zur Anhebung der Studienzulassungen.

In dem demokratischen Wohlstandsland Südkorea ist das Gesundheitswesen durch langjährige Verschleppung notwendiger Reformen in eine gefährliche Schieflage geraten. Eine halbe Generation junger Ärzte droht dem Staat verloren zu gehen. Eine Gesundheitsreform ohne Einbeziehung der relevanten Berufsgruppen wird in keinem Land der Welt zum Erfolg führen. Andererseits lassen sich die schlechten Arbeitsbedingungen eines Teils der Ärzteschaft auf Dauer wohl nicht ohne Erhöhung ihrer Anzahl beheben. Die wohl wichtigste Erkenntnis aus der momentanen Krisensituation im südkoreanischen Gesundheitssystem aber ist, dass die zentrale Daseinsvorsorge Gesundheit nicht dem freien Spiel eines privaten Marktes überlassen werden darf. Jede qualitativ hochwertige und bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung hat ihren Preis. Fehlanreize in Kauf zu nehmen, um vermeintliche Einsparungen bei den Gesundheitsausgaben zu lukrieren, kann jedoch auf längere Sicht viel teurer kommen. 

Quellen und Links:

www.sz.de/suedkorea

www.thelancet.com – Vol 403 – June 15, 2024

WHO Library Cataloguing in Publication Data. Republic of Korea health system review (Health Systems in Transition, Vol. 5 No. 4; 2015)

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