EU-Verordnungen MDR und IVDR: Wer schützt uns vor dem Schutz?

Lesedauer beträgt 3 Minuten
Autor: Ghazaleh Gouya-Lechner

Mehr Patientensicherheit, Evidenz und Transparenz – das waren die Kernziele der EU-Verordnungen MDR und IVDR. Doch Jahre nach ihrem Inkrafttreten mehren sich kritische Stimmen. Die Evidenzlücken sind riesig.

Verzögerungen, mangelnde Harmonisierung, intransparente Bewertungen und fehlende Nutzung von Real-World-Daten schwächen das Vertrauen in den Regulierungsrahmen der neuen EU-Verordnungen. Fachleute warnen: Ohne gezielte Anpassungen droht nicht nur ein Rückgang der Innovation, sondern auch eine Gefährdung der Patientensicherheit. Die Europäische Kommission nimmt bereits frühzeitig – gemäß Artikel 121 der MDR und Artikel 111 der IVDR – eine Evaluierung der Umsetzung beider Verordnungen vor, obwohl deren vollständige Anwendung erst für 2028 (MDR) bzw. 2029 (IVDR) vorgesehen ist. Die Erkenntnisse zeigen: Besonders bei innovativen, hochkomplexen oder pädiatrischen Produkten führt die aktuelle Umsetzung zu teils erheblichen Problemen. Zertifizierungsprozesse dauern lange, sind kostenintensiv und setzen kleinere Hersteller unter Druck.

Keine Aufsichtsbehörde. Anders als bei Arzneimitteln fehlt bei Medizinprodukten eine zentrale europäische Kontrollinstanz. Experten fordern eine klinisch-wissenschaftliche Koordinierung auf EU-Ebene – angesiedelt bei der EMA.

Ruf nach europäischer Koordinierung

Ein zentraler Kritikpunkt: die fragmentierte Aufsicht. Anders als bei Arzneimitteln fehlt bei Medizinprodukten eine zentrale europäische Koordination. Stattdessen prüfen Benannte Stellen mit teils unterschiedlichen Maßstäben. Die Biomedical Alliance in Europe fordert deshalb eine klinisch-wissenschaftliche Koordinierung auf EU-Ebene – idealerweise angesiedelt bei der EMA. Ein Expertenteam könnte komplexe Produkte wie Kunstherzen zentral bewerten und so für Qualität, Einheitlichkeit und Effizienz sorgen.

Gleichzeitig leidet das System unter gravierenden Transparenzdefiziten. Bewertungsprozesse laufen häufig intransparent ab. Für Fachkreise ist kaum nachvollziehbar, warum ein Produkt zugelassen oder abgelehnt wurde. Eine stärkere Einbindung der medizinischen Community, z.B. durch öffentliche Konsultationen oder zugängliche Studienergebnisse, würde Vertrauen schaffen. Wie groß die Evidenzlücken tatsächlich sind, zeigt das CORE-MD-Konsortium: In 641 Studien zu Hochrisiko-Medizinprodukten, an denen fast 2 Millionen Patient:innen beteiligt waren, fand sich für 71 kardiovaskuläre Produkte keine einzige randomisierte kontrollierte Studie (RCT). Lediglich 9 % aller Studien wurden überhaupt veröffentlicht. Für ein Viertel der untersuchten orthopädischen Implantate fehlten selbst 20 Jahre nach CE-Kennzeichnung wissenschaftliche Publikationen. Bei Produkten zur Diabetestherapie lag der Anteil veröffentlichter Studien zur Zulassung bei lediglich 17 %. Dabei sollte die europäische Datenbank EUDAMED Transparenz schaffen. Doch gerade das klinische Modul, das Informationen zu Studien enthalten soll, ist noch nicht in Betrieb. Seine Fertigstellung ist unerlässlich, um klinische Bewertungen nachvollziehbar und evidenzbasiert zu gestalten.

Doch selbst veröffentlichte Studien weisen oft methodische Schwächen auf. Die CORE-MD-Analyse zeigt: Nur 19 % der Studien zu kardiovaskulären Produkten basierten auf RCTs, bei orthopädischen Implantaten waren es 9 %, bei Diabetesprodukten 29 %. Auch für viele Kinderprodukte fehlt robuste Evidenz. Diese Lücken beeinträchtigen die Qualität regulatorischer Entscheidungen ebenso wie die ärztliche Praxis.

Die MDR und IVDR sprechen zwar von „ausreichender klinischer Evidenz“, doch es fehlt ein einheitlicher methodischer Standard. Welche Studiendesigns wann erforderlich sind, bleibt offen. So kann es vorkommen, dass für Klasse-III-Produkte wie koronare Stents RCTs gefordert werden, während bei einem gleich eingestuften Katheter Beobachtungsdaten ausreichen. Auch bei In-vitro-Diagnostika der Klassen C und D gibt es keine klaren Leitlinien zur klinischen Leistungsbewertung.

Über die Autorin:
Priv.Doz. Dr. Ghazaleh Gouya-Lechner ist Fachärztin für Innere Medizin, Kardiologie und klinische Pharmakologie, Gründerin von Gouya Insights GmbH und Co KG, Vorstandsmitglied der GPMed (Gesellschaft für Pharmazeutische Medizin) sowie Vorstandsmitglied bei IFAPP (International Federation of Associations of Pharmaceutical Professionals).

Kontakt: office@gouya-insights.com

Orphan Devices: Hürden für Nischenprodukte

Ein besonders sensibler Bereich betrifft Orphan Devices – Produkte für seltene Erkrankungen oder sehr spezifische Indikationen, oft mit hoher Bedeutung für Kinder oder chronisch kranke Patient:innen. Die MDR unterscheidet bislang nicht zwischen breiten Marktprodukten und hochspezialisierten Nischenlösungen. Auch Kleinstserien unterliegen den vollen Anforderungen, was Entwicklung und Zulassung deutlich erschwert. Zwar hat die MDCG eine Definition für Orphan Devices formuliert (maximal 12.000 betroffene Personen in der EU) und besondere Evidenzhürden anerkannt, konkrete Erleichterungen fehlen bislang. Fachgesellschaften fordern daher flexible Zugänge, angepasste Studienanforderungen und eine stärkere Rolle von Expert Panels sowie Patientenvertretungen.

Trotz der Herausforderungen sind die Verordnungen ein Meilenstein – sie haben das Sicherheitsniveau europaweit angehoben. Die europäische Medizinprodukte-Regulierung steht jedoch jetzt bereits an einem Wendepunkt. Trotz guter Absichten zeigen die Erfahrungen der letzten Jahre, dass ohne nachjustierte Maßnahmen wichtige Ziele verfehlt werden könnten – mit Folgen für Patientenversorgung und Innovation in der Medizintechnik in Europa. Fachgesellschaften, Industrie und EU-Institutionen haben bereits Reformvorschläge vorgelegt. Zentrale Koordination, höhere Transparenz, die Nutzung von Real-World-Daten und spezielle Lösungen für Orphan-/Kinder-Geräte könnten Europa wieder attraktiver für MedTech-Innovationen machen, ohne die Patientensicherheit zu gefährden. Die Weichen werden gestellt – mit der Chance, Europa als Vorreiter einer modernen, evidenzbasierten Medizinprodukte-Regulierung zu positionieren. Damit lässt sich höchste Patientensicherheit mit einem innovationsfreundlichen Klima vereinen. 

Quellen und Links: