Zahlreiche US-Wissenschaftler planen ihre Flucht vor dem Druck der MAGA-Ideologie. Für heimische Forschungseinrichtungen bietet sich Gelegenheit, hochqualifizierte Forschungstalente nach Österreich zu holen. Allerdings ist die Konkurrenz im Werben um Talente erklecklich.
Nach zwölf Wochen der neuen US-Regierung bleibt im amerikanischen Forschungssystem kein Stein am anderen. Spricht man mit Michaela Fritz über die aktuellen Vorgänge an den US-Universitäten, wird eine gute Portion Empörung spürbar. „Was dort passiert, ist für uns alle eine Katastrophe“, entrüstet sich die Vizerektorin der Wiener Medizinischen Universität. Ein Gutteil ihres Grolls fußt auf akademischer Solidarität: „Es schmerzt zu sehen, dass Werte wie Freiheit und Unabhängigkeit von Lehre und Forschung an US-Universitäten vom Tisch gewischt werden.“ Die Materialwissenschaftlerin ist an der MedUni Wien für Forschung und Innovation verantwortlich. Es ist – unter vielen anderen Obliegenheiten – ihre Aufgabe, die Uni-Aktivitäten im Forschungsbereich zu planen. Dazu gehört, begabte und berühmte Forscherinnen und Forscher nach Wien zu lotsen. In Beschreibung der Situation leiht sie sich den Begriff „Reverse Manhatten Project“, eine Anspielung auf das US-Atomforschungsprogramm der 40er-Jahre, zu dem eine Vielzahl von emigrierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Europa beigetragen haben. Heute fließt der „Brain Drain“ in die umgekehrte Richtung. Die Süddeutsche Zeitung schreibt vom Trend des „Brain Gain“.

Verwundert und empört. Die Ereignisse an den US-Universitäten werden genau verfolgt. Für Michaela Fritz, Vize-Rektorin der MedUni Wien, ist dies „eine Katastrophe.“ Sie will „sichtbar machen, dass bei uns die Türen für Talente offen stehen“.
Stillgelegte Fördermittel
Die akademischen Verwerfungen in den USA bieten traurige, aber selten gebotene Gelegenheit. Luke Norton ist Associate Professor am Department of Medicine an der University of Texas in San Antonio: „Europa hat in diesen Wochen und Monaten die einmalige Gelegenheit, absolute Top-Wissenschaftler zu rekrutieren.“ Er rät den europäischen Verantwortlichen: „Now it’s the time.“
Der britisch-stämmige Wissenschaftler forscht und lehrt seit 15 Jahren an der UT Health auf dem Gebiet des Typ-2-Diabetes und damit verbundener Begleiterkrankungen. Im Videocall mit der ÖKZ nennt Norton die Situation an den Universitäten „sehr beängstigend“. Er habe den Eindruck, „dass der Ernst der Geschehnisse noch nicht ganz in Europa angekommen“ sei. Norton zögert bei manchen Antworten und bittet immer wieder, Gesagtes off-records zu behandeln. Er unterstreicht, nur für sich selbst als Privatperson zu sprechen und keinesfalls für seine Universität. Die Zeit des „Das-muss-man-ja-wohl-noch-sagen-dürfen“ scheint für ihn vorbei. Der 42-jährige Wissenschaftler hat im Februar den obligatorischen Fortschrittsbericht für eines seiner Stipendien eingereicht. Das entspricht dem routinemäßigen Ablauf für die Fortführung der drei- bis fünfjährigen „Grants“. Bislang war die jährliche Bestätigung eine Formalität. Heuer wartet er seit Wochen auf das OK des finanzierenden National Institutes of Health (NIH) – und auf dessen Zahlungen. Das NIH ist der Motor, der mit einem Budget von 47 Mrd. Dollar die gesamte biomedizinische akademische Forschung in den USA antreibt. Das NIH ist eine Bundesbehörde und ressortiert im Gesundheitsministerium (Department of Health and Human Services), an dessen Spitze seit dem 6. Jänner Robert F. Kennedy Jr. steht. Das ist jener Mann, der Anfang April in einer zweiten Entlassungswelle weitere 10.000 Mitarbeiter des Gesundheitsministeriums auf die Straße setzte. Zu den Entlassenen gehören nach Recherchen der New York Times und der Washington Post führende Wissenschaftler, Manager der Gesundheitsbehörde CDC und der Leiter der Regulierungsbehörde für Tabak. Ganze Abteilungen, die sich etwa mit chronischen Krankheiten und Umweltproblemen befassen, seien gestrichen worden, heißt es in den beiden Zeitungen. Die Regierung Trump II ist zu dem Zeitpunkt elf Wochen im Amt.
Im amerikanischen Forschungssystem kommen NIH-Grants für Projektkosten, Gehälter der Mitarbeiter in den Laboren, für die Doktoranden und für einen großen Teil von Nortons Gehalt auf – sowie für die Betriebskosten der Universitäten. Sämtliche Programme, die mit „Diversity, Equity, Inclusion“ (DEI) nur im Entferntesten zu tun hätten, würden gestoppt. Studien, an denen Norton beteiligt war wie über „die geschlechtsabhängige Fettglukoseverteilung durch den mitochondrialen Pyruvatträger“, seien nicht mehr machbar. Er ist überzeugt: „Der Umbau hat gerade erst begonnen.“
Zum Zeitpunkt des Interviews wartete Norton unverändert auf das Go des NIH: „Ich weiß nicht, ob ich meine Mittel für das nächste Jahr bekomme oder nicht. Und das ist für ein klinisches Projekt wie meines ein Desaster.“ Er habe Patienten in der Studie zu betreuen, die mit Medikamenten versorgt werden müssen. Seine Mitarbeiter verlangen ihr Gehalt. „Ich kann nicht einfach aufhören und ‚Sorry‘ sagen.“ Die Stimmung am Campus sei am Nullpunkt. Und das Uni-Management bleibe völlig passiv. „Wenn ich all das Geld verliere, ist es ihnen egal.“ In seinem Department seien die Stellenpläne für PhDs und PostDocs um 23 bis 30 Prozent zurückgestrichen worden. Dies sei an allen Universitäten das Gleiche. „Die Menschen sind extrem besorgt.“
Luke Norton ist Familienvater. Er hat drei Kinder, eine 8-jährige Tochter und fünfjährige Zwillingsmädchen. Gerade wurde das Bildungsministerium in Washington aufgelöst: „Ich weiß nicht, wie die Ausbildung meiner Kinder in den nächsten ein oder zwei Jahren aussehen wird.“ Die Situation sei „extrem stressig“. Ob Luke Norton daran denke, sein berufliches und privates Umfeld zu verändern? „Ich muss. Ich sehe keine andere Wahl.“
Forschung und Wissenschaft haben in der Welt der Trumpisten keinen Stellenwert. Donald Trump und seine Wähler fühlten und fühlen sich von Intellektuellen nie ernst genommen. Dabei hatte sich Donald Trump in seiner ersten Amtszeit in Interviews mit sämtlichen Premiummedien und Topjournalisten sehr darum bemüht. Mittlerweile hat der 47. Präsident das Werben um Anerkennung komplett eingestellt. Umso lustvoller brechen die MAGA-Fanatiker sämtliche Regeln der Ivy League.
Wenn mit Marci Shore, Timothy Snyder und Jason Stanley gleich drei prominente Geisteswissenschaftler aus Yale die USA verlassen, dann kostet dies die neue Regierung und ihre Anhänger nicht mehr als ein Schulterzucken. Naturwissenschaftler sollten nicht erwarten, anders eingeschätzt zu werden. Ein Protestbrief von 1900 Forscherinnen und Forschern an die Regierung, der Anfang April veröffentlicht wurde, änderte daran nichts. Die meisten Forscher, Universitäten, Forschungseinrichtungen und Berufsverbände würden schweigen, „um ihre Finanzierung nicht zu gefährden“. Die Wirksamkeit der Proteste geht gegen Null. Nach Ansicht von Trumps Wählerbasis sind Universitäten ein Hort von linken Studierenden und einer hochnäsigen Professorenschicht, die nichts tun, außer Steuern zu verschwenden und woke Regeln zu erfinden.

Ratlos. Der Brite Luke Norton forscht seit 15 Jahren an der University of Texas. Die MAGA-Politik verändert sein berufliches Umfeld komplett. Er fürchtet, dass eine Rückkehr nach Europa unumgänglich ist.
Schwere Entscheidung
Emigration ist Ausdruck höchster Verzweiflung. Denn leicht ist ein Gang ins Exil nie. Auch nicht, wenn der nächste Lehrauftrag im Ausland wartet. Luke Norton trifft in Großbritannien auf eine vertraute Umgebung. Seine Frau und Kinder gehen aber in die Fremde, was er ihnen nicht gerne zumutet. Ein derartiger Entschluss ist immer die Ultima Ratio. Druck und Stress an den US-Universitäten und Forschungseinrichtungen scheinen aber unerbittlich. Vize-Rektorin Michaela Fritz berichtet, nach den US-Wahlen im Herbst seien Bewerbungen aus den US-Universitäten um Forschungsstellen merklich angestiegen:
Der Wettlauf um frustrierte US-Wissenschaftler vollzieht sich in einem globalen Maßstab. Ende März haben dreizehn Regierungen und Wissenschaftsministerien in einem der ÖKZ vorliegenden Brief an EU-Kommissarin Ekaterina Zaharieva eine gemeinsame Rekrutierungsinitiative gefordert. Zu den Unterzeichnenden gehört auch Österreichs neue Forschungsministerin, Eva Maria Holzleitner. In dem Brief wird an die Kommission appelliert, über bestehende Instrumente wie den Europäischen Forschungsrat, Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen (MSCA), ERA Talents-Plattform oder Allianzen europäischer Universitäten gezielte Mittel für Rekrutierungen bereitzustellen.
Während die EU zu Redaktionsschluss um einen Termin für eine koordinierende Sitzung ringt, sind andere Regierungen längst in das Rennen gestartet. China hat Stipendien für Forscher aus dem weiten Feld der Medizin ausgelobt, deren Grants von der NIH einkassiert worden sind. In Großbritannien aktivieren laut der Tageszeitung Guardian die Elite-Universitäten Oxford und Cambridge ihre Netzwerke, um prominente Wissenschaftler auf die Insel zu lotsen. Der französische Präsident Emanuel Macron sprach bei seiner Rede bei der „Conférence sur la Science et la Souveraineté“ im Februar gezielt „exzellente internationale Wissenschaftler“ an, die sich in ihren Heimatländern zunehmend eingeschränkt fühlen. Er biete ihnen „eine Heimat in Frankreich“. Dabei wurde auch ein neues 200-Millionen-Euro-Paket für internationale Forschungskooperationen angekündigt.
Auch die deutschen Nachbarn sind aktiv: Die Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege verkündete Ende März, sie wolle einen Fonds einrichten, um „Forschenden aus den USA einen neuen Ort zu geben, an dem sie frei in einem weltweit einzigartigen Umfeld forschen können“. Die Max-Planck-Gesellschaft sieht in den USA einen „neuen Talentpool“. Und der scheidende Bundesminister für Bildung und Forschung, Cem Özdemir, versprach Forscherinnen und Forschern, die „in ihrer Heimat nicht mehr die Möglichkeit sehen frei zu arbeiten“, ihnen „im Rahmen der Möglichkeiten im deutschen Wissenschaftssystem eine Perspektive zu bieten“.
Diabetes-Forscher Luke Norton verfügt – notgedrungen – über eindeutige Vorstellungen, was ein Jobangebot enthalten sollte. Bei einem Wechsel innerhalb des US-Forschungssystems würde er ein Projekt- oder Start-up-Angebot von zwei bis drei Millionen Dollar erwarten. Dies sei ungefähr der Umfang, den er seinerseits bislang an NIH-Grants mitgebracht hätte. Auf europäische Verhältnisse umgelegt wäre ein Projektbudget für Forscher seines Levels in Höhe besagter zwei bis drei Millionen Dollar angemessen. Bei „berühmten Dozenten seien dies das Fünf- bis Zehnfache“ der Summen: „Das ist, was ein typischer US-Akademiker erwarten würde.“ Daneben gebe es auch noch wichtige Soft-Facts: Die Umzugskosten seien ein großer Faktor, besonders wenn die Wissenschaftler Familien mitbrächten. Auch sei eine Art von Sprachförderung sehr hilfreich. Begleitung bei der Suche nach Schulen, Wohnungen und Gesundheitsversorgung sei ebenfalls etwas, das „beitragen würde, die Besten für Ihr Land zu rekrutieren“.
Offene Türen
Die Situation in den USA sei im Ministerium „ein großes Thema“, versichert eine Sprecherin von Forschungsministerin Holzleitner. Am 27. März versammelten sich an die 40 Vertreter von Universitäten sowie zentralen Forschungs- und Fördereinrichtungen vor ihren Monitoren, um ein Onlinemeeting mit dem Titel „Joint Austrian Attractivity Effort“ zu starten. Eingeladen haben jeweils ein Sektionschef und eine Sektionschefin des Forschungsministeriums. Zweck des Videocalls war eine Bestandsaufnahme: Welche Instrumente im heimischen Fördersystem helfen, Forschende in frühen Karrierephasen – von PhD-Studierenden bis Post-Docs – nach Österreich zu holen? Und welche Werkzeuge braucht es, um das Angebot an potenzielle Stipendiaten abzurunden. Zentrales Ergebnis der Großkonferenz: Geplant ist eine Online-Plattform als One-Stop-Shop, auf der akademische Jobangebote gesammelt werden. Im Rahmen der „Attractivity Efforts“ sollen Österreichs Auslandsvertretungen – wie Botschaften und Konsulate – sowie das Innenministerium eingebunden werden, um Visaanträge und Arbeitsbewilligungen zügig und effizient abwickeln zu können.
Die Maßnahmen und Informationen werden von der Agentur für Bildung und Internationalisierung OeAD (einstmals Österreichischer Austauschdienst) koordiniert. Der OeAD administriert Programme wie Erasmus+, CEEPUS und andere akademische Förderinstrumente. Die Informationen sollen schließlich auf der Euraxess Austria Webseite (https://www.euraxess.at) veröffentlicht werden. Bei Euraxess handelt es sich um eine EU-Initiative, die den personellen Austausch von Wissenschaftlern innerhalb Europas und weltweit erleichtern soll. Wie weit die Anstrengungen frische Stipendien und neu dotierte Programme beinhalten, lassen Universitäten und Ministerium in Schwebe. Es herrscht das Diktat der leeren Kassen. Die Schaffung eines eigenen PostDoc-Programms werde aber geprüft, heißt es.
Bleibt die Frage, wie nachhaltig sich der Atmosphärenwechsel für Trump-Flüchtlinge darstellt. Österreich, Deutschland, Frankreich – all diese Nationen bekräftigen, die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und die akademische Freiheit verteidigen zu wollen. Die akademische Unabhängigkeit sei ein Kennzeichen der europäischen Identität, schreiben sie im Brief an die EU-Kommissarin Zaharieva. Ob dieses Versprechen auch nach den nächsten Wahlen hält, ist nicht gesichert.
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