Der Umgang mit hörbeeinträchtigten Patientinnen und Patienten stellt Gesundheitseinrichtungen vor gewaltige Probleme. Und das immer schon. Ein Start-up bietet Schulungen im Umgang mit der Zielgruppe.
Für manche Menschen ist die Welt ganz ruhig. Und das macht sie weder entspannt noch glücklich. Denn eine Hörbeeinträchtigung zieht eine Wand zwischen die Betroffenen und ihre Umwelt, die sie damit alleine lässt. Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen haben große Probleme, mit der eingeschränkten Kommunikationsfähigkeit schlecht hörender oder tauber Patienten zurechtzukommen. Die Beispiele sind zahllos. Einer der häufigsten Vorfälle: In der Notaufnahme werden Patienten nach mehreren erfolglosen Aufrufen aus der Warteliste gestrichen – die hörbeeinträchtigen Patienten haben schlicht die Aufrufe nicht gehört. „In Pflegesituationen werden häufig Maßnahmen ergriffen, die darauf abzielen, aus eigener Unsicherheit den Kontakt mit dem gehörlosen Patienten möglichst kurz zu halten. Die Pflegenden wissen nicht, mit der Situation umzugehen“, schreibt Patrick Martinetz. Missverständnisse und fehlerhafte Annahmen seien da nur die logische Konsequenz. Martinetz ist diplomierter Pfleger und Lektor an der FH Wiener Neustadt. Und er ist nebenbei Gründer des Start-ups MedicSigns, das eine Plattform zur barrierefreien Kommunikation zwischen medizinischem Personal und gehörbeeinträchtigten Patienten zur Verfügung stellt. Martinetz ist selbst Betroffener.

Lernen zu deuten. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Gesundheitseinrichtungen
sind selten im Umgang mit hörbeeinträchtigten Patienten geschult. Spezifische Weiterbildungen bringen jetzt Fortbildungspunkte.
Schulungen als strategische Maßnahme
Im klinischen Alltag ergeben sich häufig gravierende Kommunikationsprobleme im Umgang mit hörbeeinträchtigten Patienten. „Ein wesentliches Problem ist, dass das Wissen über den richtigen Umgang mit gehörlosen Menschen überall unzureichend ist“, erklärt der Pfleger und Gründer. Aktuelle Lösungen sind „sehr holprige Kommunikationsversuche oder die Nutzung von Laiendolmetschern.“ Angehörige oder „die Raumpflegerin, die eine gehörlose Mutter hat“, würden dann einspringen, so Martinetz. Dadurch gingen wichtige Informationen verloren oder würden gar nicht erst weitergegeben. „Sprache ist nie neutral – schon gar nicht, wenn sie von Laien vermittelt wird“, warnt Martinetz. Die Kommunikation mit Gehörlosen verlangt nach kurzen prägnanten Stichworten. Schachtelsätze mit Synonymen und Fremdwörtern verbrauchen bei den gehörlosen Adressaten viel Energie und bleiben oftmals unverstanden.
MedicSigns bietet neben den tagesaktuellen Lösungen für Kommunikationsprobleme mit Gehörlosen seit fünf Jahren auch Sensibilisierungsschulungen. Die Workshops werden vor Ort von Martinetz in den Kliniken abgehalten. „Wenn es um das Thema Gehörlosigkeit geht, ist die direkte Kommunikation mit gehörlosen Trainern sehr wichtig“, so Martinetz. Nur so würde „authentische, lebendige Erfahrung“ vermittelt, die bei echtem Patientenkontakt hilfreich sei. Die Schulungen zielen auf ein grundlegendes Verständnis für die Kommunikation mit Hörbeeinträchtigten ab. Dabei geht es um Hintergrundinformationen, was Gebärdensprache überhaupt ist, und um die Klärung der Frage, ob es dabei auch Fremdsprachen gibt (Antwort: Nein, Gebärdensprache ist nicht international. Jede Sprachgemeinschaft hat ihre eigene nationale oder regionale Gebärdensprache – genauso wie Lautsprachen). Wer finanziert notwendige Dolmetschdienste? Wie können Gehörlose einen Notruf absetzen? Wie schaffe ich eine belastbare Kommunikationsbasis?
Die modular gegliederten Basisschulungen – vier bis sechs Einheiten zu je 45 Minuten – richten sich an alle Berufsgruppen im Gesundheitsbereich – Pflegekräfte, Therapeutinnen, Verwaltungspersonal oder Rettungsdienste. Und selbstverständlich an die Ärzteschaft. Mediziner weisen oft ein größeres Informationsdefizit bezüglich der Bedürfnisse gehörloser Menschen auf als die Kolleginnen der Pflege. Der Grund liegt auf der Hand: Sie haben deutlich weniger Kontakt mit den Patienten als die Stationsschwestern. In kritischen Situationen kann die Kommunikationsbarriere zu schwerwiegenden Fehlentscheidungen führen – etwa, wenn Aufklärungsgespräche unzureichend verstanden werden oder die Anamnese unvollständig bleibt.
Für eine Vertiefung der Basisinformationen bietet Martinetz weitergehende Online-Schulungen an, die direkt im Pflegealltag umgesetzt werden können. Über eine webbasierte Anwendung seines Start-ups lassen sich zentrale Informationen auch ohne Dolmetscher strukturiert erfassen – angepasst an gängige Notfallstandards wie ABCDE oder SAMPLE. „Der zweite Teil ist bewusst niedrigschwellig gehalten – ein Lernvideo, das man zu jeder Zeit abrufen kann. Das ist wichtig, weil Fortbildungszeit immer knapp ist“, sagt Martinetz. Nach Bestellung dauert es maximal 48 Stunden, bis Klinik-Accounts eingerichtet sind. Über QR-Codes kann das Personal die Plattform sofort nutzen. Die Videos mit vordefinierten medizinischen Fragen sind kurz, praxisnah und lassen sich flexibel und ortsunabhängig konsumieren – das erleichtert die Integration in den Berufsalltag.

Pfleger und Gründer. Patrick Martinetz hat ein Unternehmen gegründet, um die Betreuung von Hörbeeinträchtigten in Gesundheitseinrichtungen auf ein neues Level zu bringen.
Weiterbildung lohnt
Auch Pflegepersonal unterliegt einer Fortbildungspflicht. Dabei können die spezifischen Qualifizierungen einfach in bestehende Dienstpläne integriert werden. Die Kurse von MedicSigns werden dabei als Fortbildungsstunden anerkannt. Martinetz erzählt, dass sich Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach der Schulung deutlich sicherer im Umgang mit gehörlosen Patienten fühlen, und dass sich ihr Bild von gehörlosen Menschen verändert habe. Sie verstünden sie besser – in mehrfachem Wortsinn. Auch auf Seiten der Patienten gestaltet sich die Situation deutlich einfacher: Sie fühlen sich verstanden, respektiert und in Sicherheit. Die Schulung hievt nicht nur die Qualität der Versorgung auf ein höheres Level, sondern hilft, rechtlichen Problemen vorzubeugen. Barrierefreie Kommunikation ist in vielen Fällen keine Kür, sondern zunehmend gesetzlich gefordert. Gesundheitseinrichtungen, die hier aktiv werden, handeln nicht nur aus Mitgefühl, sondern im Sinne von Compliance, Qualität und Patientensicherheit.
Die Kommunikation mit hörbeeinträchtigten Menschen ist ein realistisches Szenario im Klinikalltag – nicht mehr nur eine Ausnahme. Pflegekräfte müssen dafür vorbereitet sein. Schulungen zur Sensibilisierung und der Umgang mit digitalen Kommunikationshilfen sind keine Zusatzbelastung, sondern eine Entlastung im Ernstfall. „Pflege ist die Brückenbauerin im System“, schreibt Patrick Martinetz an die ÖKZ. „Aber sie braucht auch das passende Werkzeug.“
Warum Lippenlesen eine Bürde und kein Talent ist
Patrick Martinetz ist überzeugt, dass die allgemeinen Ansichten über das Lippenlesen zu den häufigsten Fehleinschätzungen gehören, mit denen Hörbeeinträchtigte zu kämpfen haben. Viele hörende Menschen glauben, dass Lippenlesen ein Ersatzwerkzeug für den Hörsinn sei. Martinetz: „Das stimmt so nicht.“ Lippenlesen sei „extrem anstrengend, oft frustrierend – und nie verlässlich“.Nur etwa 30 % der Laute sind überhaupt visuell erkennbar. Jeder Mensch spricht anders, hat eine andere Mundform, manche nuscheln oder sprechen Dialekt, andere drehen sich beim Sprechen weg – und schon versteht man gar nichts mehr. Für gehörlose oder schwerhörige Menschen bedeutet das ständiges Raten, Mitdenken, Kontext rekonstruieren. Das koste den Hörbeeinträchtigten „enorm viel Energie“, erklärt Martinetz.
Wenn Hörende Lippenlesen als Talent bezeichnen, würden sie vergessen, „wie mühsam und unzureichend“ es in der Praxis oft sei. Und es ignoriere die Verantwortung, selbst barrierefreie Kommunikation zu ermöglichen.
Für Hörbeeinträchtigte stelle sich noch ein weiteres Problem in der Praxis: Hörende verändern Sprechweise und Satzstellung, wenn sie bemerken, dass ihr Gegenüber Schwierigkeiten hat, das Gesagte zu verstehen. Aus der Frage: „Haben Sie Ihre Medikamente schon genommen?“ wird der veränderte Satz: „Ob Sie die Tabletten genommen haben?“ Der Befragte, der von der ersten Frage nur den ersten Teil verstanden hat, ist mit einem komplett neuen Satz konfrontiert. Das Problem ist dadurch oft größer geworden.
