Kassenarzt Sebastian Huter: „Ich würde das Fach nicht in einer Einzelordination ausüben wollen“

Lesedauer beträgt 3 Minuten
Autor: Josef Ruhaltinger

Der Wiener Hausarzt auf Kasse Dr. Sebastian Huter im Interview: „Ich schätze die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, wie man sich entwickeln und welche Unternehmenskultur man leben will.“

Dr. Huter, Sie sind Mitbegründer der PVE Sonnwendviertel, das Sie mit je einer Kollegin und einem Kollegen in der Nähe des Wiener Hauptbahnhofs seit 2021 betreiben. War für Sie immer schon klar, dass Sie Allgemeinmediziner mit Kassenvertrag werden wollen?
Sebastian Huter: Ich bin spät zur Medizin gekommen. Der Berufswunsch ist erst während des Zivildienstes beim Salzburger Roten Kreuz gewachsen. Bei den Fachrichtungen gingen meine ersten Überlegungen in Richtung Notfallmedizin und Anästhesie. Unfallchirurgie schien mir auch spannend. Im Laufe des Studiums merkte ich aber, dass die kurzfristige Reparaturmedizin nicht für mich passt. Ich wollte eine moderne Form von nachhaltiger Medizin praktizieren, bei der die Patienten gar nicht erst zum Notfall werden. Dafür ist das Konzept der Primary Health Care und die enge Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsdienstleistern die passende Arbeitsform.

Dr. Sebastian Huter MPH (37) ist Arzt für Allgemeinmedizin und Mitbegründer der Primärversorgungseinheit (PVE) Sonnwendviertel. Huter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Allgemein-, Familien- und Präventivmedizin der Paracelsus Medizinischen Universität Salzburg und Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (ÖGAM). In den Anfängen der Pandemie war er von November 20 bis Mai 21 Mitarbeiter im Kabinett Anschober/Mückstein.

Wären Sie auch Allgemeinmediziner und Kassenarzt, wenn es nicht die Möglichkeiten zur Gründung eines Primärversorgungs­zentrums gegeben hätte?
Ich wäre wahrscheinlich trotzdem Allgemeinmediziner. Ich würde aber das Fach nicht in einer Einzelordination ausüben wollen. Für uns drei im medizinischen Sonnwendviertel-Team war immer klar, dass wir in der Gruppe arbeiten wollen. Kassenmediziner in einer klassischen Einzelordination war für keinen von uns eine Option.

Weil?
Es mag jetzt hochtrabend klingen: Aber wir teilen die Vision, eine hochqualitative Primärversorgung zu leisten, die innovativ sein darf. Wir wollen eine bedarfsgerechte Versorgung aufbauen, in der organisatorische Neuerungen ihren Platz haben. Wir wollen offen für alle sein. Da braucht es zusätzlich zur 40-Stunden-Woche ein hohes Organisations- und Unternehmenstalent und die entsprechenden Freiräume, dies umzusetzen. Die sind bei einer PVE weitgehend gegeben.

Eine Karriere als Spitalsarzt wäre für Sie nicht infrage gekommen?
Nie ernsthaft. Ich schätze die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, wie man sich entwickeln und welche Unternehmenskultur man leben will. Wir bestimmen, wie stark wir uns im engen und erweiterten Praxisteam vernetzen, wie eng wir mit den anderen Gesundheitsanbietern kooperieren. Wir haben in unserem Haus eine weitere Kinder-PVE, eine Apotheke und andere Gesundheitseinrichtungen, mit denen wir zusammenarbeiten. Das bringt Freiheit, die ich im Spital nicht habe.

Kammer-Vizepräsident Edgar Wutscher nennt die unflexible Gestaltung der Verträge als einen der Hauptgründe, warum Kassenstellen so wenig nachgefragt werden. Wie erfahren Sie die Zusammenarbeit mit der ÖGK?
Ich weiß über die aktuelle Ausgestaltung von Einzelkassenverträgen zu wenig Bescheid. Ich kann über unseren Vertrag sprechen: Ich finde Auflagen normal, weil die Kasse die Versorgung über den Vertrag sicherstellen muss. Aber das sind nachvollziehbare Vorgaben, die man in einem Team gut unterbringt.

Wirklich alles paletti in der Zusammenarbeit mit Stadt Wien und Kassen?
Das Verrechnungs- und Honorarsystem kann jede Menge Verbesserungen vertragen. Da herrscht viel Murks. Unser Anspruch, gute Versorgung zu leisten, steht in keinem Verhältnis mit dem Honorarsystem. Das System, wie es jetzt aufgestellt ist, orientiert sich an Einzelleistungen. Ich werde dafür bezahlt, dass ich viel Versorgung leiste. Es wird aber nirgends nachgeschaut, ob ich auch gute Versorgung mache. Die Tatsache, wie viele Infusionen gegeben werden, hat nichts mit der Qualität zu tun. Wir werden rein nach Quantität beurteilt. Qualität spielt in der Honorierung keine Rolle. Dabei ist es mein Ziel, meine Patienten gesünder zu machen und nicht weniger krank.

Wie kommt dies im Alltag zum Tragen?
Wir diskutieren zu wenig darüber, was wertvolle Versorgung bieten soll und wie wir das in ein Honorierungssystem gießen. Aktuell verrechnen wir viele Einzelleistungen. Aber für das heutige Verständnis von Primärversorgung passt das aus meiner Sicht nicht mehr: Gute Versorgung bedeutet bei uns, dass die Patienten das bekommen, was sie brauchen, nicht das, was besser honoriert wird. In den PVE-Verträgen anderer Bundesländer gibt es spannende Ansätze, wo viel stärker pauschaliert abgerechnet wird. Kommt eine komplexe Einzelleistung wie eine Wundversorgung dazu, dann kann dies separat honoriert werden. Wenn ich aber jede Infusion, jeden Fingerstich als Einzelleistung aufliste, hinterlässt das im System Spuren.

Welche?
Diese Vorgangsweise hat Lenkungseffekte. Wenn ich in Einzelleistungen denke, werde ich eine Versorgungsleistung, die nicht honoriert wird, nur in beschränktem Umfang erbringen. Ob eine Leistung sinnvoll ist, kann dann schnell in den Hintergrund treten. Prinzipiell müssen wir uns von Grund auf überlegen, wie wir qualitätsvolle und erfolgreiche Primärversorgung honorieren können.

Ein weiterer Vorwurf der Kammer geht in Richtung einer überbordenden Bürokratie, die mit einem Kassenvertrag einhergeht. Wie erleben Sie das?
Was ist mit dem Begriff „Bürokratie“ gemeint? Ich verstehe bis zu einem gewissen Grad, wenn aus Gründen der Patientensicherheit und der Abrechnungsqualität Dokumentation verlangt wird. Was ich überhaupt nicht verstehe ist die Tatsache, dass diese Bürokratie wenig geregelt ist. Die Prozesse sind nicht klar definiert, nur sehr wenige Abläufe sind gesichert digitalisiert. Das ist extrem mühsam und wäre leicht zu beseitigen.

Von den Kassenärzten wird die chefärztliche Bewilligungspflicht immer wieder hart kritisiert. Wie handhaben Sie die Kommunikation mit der Kasse und den Chefärzten?
Ich kann verstehen, dass die Kasse das Lenkungsinstrument der chefärztlichen Bewilligung immer wieder ins Rennen bringt. Aber ich habe kein Verständnis dafür, dass man im Jahr 2024 diese Sachen immer noch mit einem teilweise papiergebundenen und Fax-basierten Prozess abwickelt. Das ist sowas von verstaubt und zeitraubend. Aktuell hat man es bei jeder Kommunikation mit einem anderen Chefarzt zu tun, mit dem wieder alles neu aufgerollt werden muss. Für jede Rückantwort muss ein neuer Antrag gestellt werden. Das ist die Art von Bürokratie, bei der ich mir vorstellen kann, dass sie Kollegen das Weite suchen lässt.

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