JBI Österreich: Globales Netzwerk, lokale Wirkung

Lesedauer beträgt 4 Minuten
Autor: Camilla Neubauer-Bruckner, Martin Fangmeyer

Heuer wurde in Krems das österreichische Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung – JBI Österreich – gegründet. Die Joanna Briggs Institute Collaboration verbindet weltweit Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen, um vertrauenswürdiges Wissen in praktisches Handeln zu verwandeln.

Die Gesundheitsversorgung weltweit steht vor großen Herausforderungen, die ein Umdenken und nachhaltig wirksame Veränderungen verlangen. Dazu zählen beispielsweise der Fachkräftemangel, begrenzte Ressourcen, steigende Erwartungen von Patient*innen und neue wissenschaftliche Erkenntnisse, welche ständige Anpassungen von Maßnahmen und Prozessen erfordern. Die zentrale Frage lautet: Wie stellen wir sicher, dass Patient*innen nur jene Leistungen erhalten, die nachweislich wirksam und sicher sind – und, dass Maßnahmen mit fraglichem oder widerlegtem Nutzen konsequent zurückgenommen werden? Eine Initiative, die sich dieser Fragestellung annimmt, ist die Joanna Briggs Institute Collaboration (JBIC). Sie vereint Praxis, Forschung und Management, um evidenzbasierte Gesundheitsversorgung weltweit zu fördern und praxisnah umzusetzen (1).

Vermessung der Wirklichkeit.
Das Joanna Briggs Institute (JBI) zählt zu den weltweit führenden Einrichtungen für evidenzbasierte Gesundheits­versorgung. Heuer hat in Krems das JBI Österreich seine Arbeit aufgenommen.

Die Joanna Briggs Institute Collaboration

Das Joanna Briggs Institute (JBI) wurde 1996 in Australien gegründet und zählt heute zu den weltweit führenden Einrichtungen für evidenzbasierte Gesundheitsversorgung. Mit über 80 Partnerzentren in 40 Ländern versteht sich JBI nicht nur als Forschungseinrichtung, sondern auch als internationales Netzwerk, das die Lücke zwischen wissenschaftlicher Evidenz und der Praxis der Gesundheitsversorgung schließt. Neben JBI verfolgen auch Organisationen wie Cochrane oder die Campbell Collaboration ähnliche Ziele, unterscheiden sich jedoch in Ausrichtung und Schwerpunkt.

JBI erstellt hochqualitative Evidenzsynthesen und ergänzt dies durch praxisnahe Methoden, Werkzeuge und Schulungen zur Implementierung. Ein zentrales Fundament ist das JBI Model of Evidence-Based Healthcare (2-4). Es beschreibt evidenzbasierte Versorgung als Zusammenspiel von Evidenzgenerierung, -synthese, -transfer und -implementierung. Im Mittelpunkt steht der „Pebble of Knowledge“, das evidenzbasierte Praxis anhand des FAME-Ansatzes definiert: Entscheidungen beruhen nicht allein auf Wirksamkeit, sondern berücksichtigen auch Machbarkeit (Feasibility), Angemessenheit (Appropriateness), Bedeutsamkeit (Meaningfulness) und Effektivität (Effectiveness). Damit stellt das Modell sicher, dass Versorgung nicht nur wissenschaftlich geprüft wirksam, sondern auch praktisch umsetzbar, relevant und sinnvoll bleibt. Darüber hinaus steht auch die globale Gesundheit im Zentrum, die transnationale Zusammenarbeit zur Förderung von Gesundheit und Gerechtigkeit erfordert. Nachhaltige Wirkung, aktive Einbindung relevanter Akteur*innen sowie die Orientierung an realen Wissensbedarfen sind zentrale Elemente. Das JBI-Modell versteht sich als praxisnahes, flexibles In­strument, das Forscher*innen, Fachkräfte und Entscheidungsträger*innen bei der Überführung von Evidenz in konkrete Praxisentscheidungen unterstützt (4).

Heuer wurde das österreichische Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung – JBI Österreich – gegründet und in die internationale JBIC aufgenommen. Es ist am Department für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation der Universität für Weiterbildung Krems angesiedelt. Dieses verfügt über langjährige Expertise in der Erstellung von Evidenzsynthesen, Methodenforschung und Evaluation von Projekten zur evidenzbasierten Entwicklung gesundheitsförderlicher sowie präventiver Interventionen.

Das neue Zentrum befindet sich im Aufbau – der Fokus liegt auf dem Transfer von Wissen und Methoden in die Praxis sowie auf Forschung zur Implementierung und De-Implementierung. Implementierungsforschung entwickelt und erprobt Modelle, um evidenzbasierte Maßnahmen nachhaltig in der Versorgung zu verankern (5). Mit der De-Implementierung wird das Ziel verfolgt, Interventionen mit minimalem bzw. keinem Nutzen oder solche, die sogar mehr Schaden als Nutzen verursachen („Low-Value-Care“), aus der Praxis systematisch zu entfernen. Gerade in Industrieländern ist Low-Value-Care verbreitet und birgt finanzielle, ressourcenverknappende und ethische Probleme (6-10). Vorarbeit leistet das Department dazu bereits mit der Initiative Choosing Wisely (11) sowie mit dem Projekt REMOVE zur Vermeidung unangemessener Katheteranwendungen bei älteren Menschen (12). Darüber hinaus setzt JBI Österreich auf Workshops, Vorträge, Methodenforschung und klinische Partnerschaften. Über das internationale Netzwerk wird globale Evidenz in lokale Kontexte übertragen und Qualitätsentwicklung gestärkt. Besonders wichtig sind klinische Partnerschaften in der intra- und extramuralen Gesundheitsversorgung. Praktiker*innen und Forscher*innen erstellen dabei gemeinsam systematische Reviews, führen Schulungen durch oder begleiten den Transfer sowie die Umsetzung in die direkte Gesundheitsversorgung.

Autor:in:

Camilla Neubauer-Bruckner, MA, BSc
Wissenschaftliche Mitarbeiterin Zentrum Cochrane Österreich und am Österreichischen Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheits­versorgung – JBI Austria

Martin Fangmeyer, MScN, BScN
Wissenschaftlicher Mitarbeiter Zentrum Cochrane Österreich und Co-Direktor des Österreichischen Zentrums für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung – JBI Austria
martin.fangmeyer@donau-uni.ac.at

Implementierung und De-Implementierung: zwei Seiten derselben Medaille

Die Implementierung neuer Maßnahmen gilt seit Jahren als eine der größten Herausforderungen im Gesundheitswesen (5). Derartige Prozesse sind komplex, zeit- und ressourcenintensiv (13-15). Hindernisse für eine erfolgreiche Implementierung finden sich sowohl in der Praxis als auch in der Forschung (15). Die Bandbreite der Implementierungsmethoden reicht von der Bereitstellung von Informationsmaterialien über Feedbacksysteme bis zu umfassenden Behandlungsalgorithmen (16). Studien zeigen: Programme mit klar geplanten Strategien erzielen zwei- bis dreimal höhere Effekte; schon begleitendes Controlling steigert die positive Wirkung (17). Erfolg lässt sich messen – etwa anhand von Implementierungstreue, Qualitätindikatoren, Anpassungsgrad oder aktiver Anwendung.

Weniger Beachtung fand bislang die De-Implementierung bzw. De-Adoption. Sie bezeichnet das gezielte Zurückdrängen von Maßnahmen, die wenig oder keinen Nutzen bringen oder sogar Schaden verursachen und in der Regel auf veralteten Traditionen beruhen (6, 7, 9, 10). Beispiele sind übermäßiges Screening, Überdiagnostik oder überflüssige Behandlungen, die Patient*innen belasten – durch Eingriffe, Kosten oder das Risiko unerwünschter Ereignisse (10, 18, 19). Angesichts knapper Ressourcen ist die De-Implementierung ebenso wichtig wie die Implementierung. Sie schafft Raum für wirksame Maßnahmen, kann die Versorgungsqualität verbessern und unterstützt den verantwortungsvollen Mitteleinsatz.

Low-Value-Care findet sich in vielen Fachgebieten: von Allgemeinmedizin über Endokrinologie, Geriatrie, Gynäkologie, Nephrologie bis zu Palliative Care und der Gesundheits- und Krankenpflege (11). Beispiele sind das Screening auf Eierstockkrebs ohne erhöhtes Risiko, der Einsatz von Statinen bei Dialysepatient*innen oder enterale Ernährung bei Menschen mit Demenz. Typische hinderliche Faktoren bei der De-Implementierung sind etablierte Routinen, nicht verfügbare glaubwürdige Evidenz oder auch die Erwartungen der Patient*innen. Deshalb ist Evaluation unverzichtbar: Nur wenn Fachkräfte Rückmeldung über die positiven Effekte von De-Implementierung erhalten, können sich neue Routinen nachhaltig etablieren.

Qualitätsentwicklung als Daueraufgabe

Die Joanna Briggs Institute Collaboration bietet ein starkes internationales Netzwerk, das Wissenschaft, Praxis und Management verbindet. Mit ihren Ressourcen und Methoden unterstützt sie sowohl die Implementierung neuer evidenzbasierter Maßnahmen als auch die konsequente De-Implementierung veralteter Praktiken.

Für Gesundheitsprofessionals und Führungskräfte im Management gilt: Qualitätsentwicklung ist kein einmaliger Schritt, sondern ein kontinuierlicher Prozess der Reflexion und Anpassung. Nur durch eine ständige Weiterentwicklung von Strukturen und gelebter Praxis sowie deren Evaluierung kann eine Versorgung erfolgen, die wirksam, sicher und nachhaltig ist. 

Quellen und Links

  1. Jordan Z. About JBI – Who are we? [Available from: https://jbi.global/about-jbi
  2. Jordan Z, Lockwood C, Aromataris E, Pilla B, Porritt K, Klugar M, et al. JBI series paper 1: Introducing JBI and the JBI Model of EHBC. J Clin Epidemiol. 2022;150:191-5.
  3. JBI. THE JBI MODEL OF EVIDENCE-BASED HEALTHCARE [Available from: https://jbi.global/jbi-model-of-EBHC.
  4. Jordan Z, Lockwood C, Munn Z, Aromataris E. The updated Joanna Briggs Institute Model of Evidence-Based Healthcare. Int J Evid Based Healthc. 2019;17(1):58-71.
  5. Grimshaw JM, Eccles MP, Lavis JN, Hill SJ, Squires JE. Knowledge translation of research findings. Implement Sci. 2012;7:50.
  6. McKay VR, Morshed AB, Brownson RC, Proctor EK, Prusaczyk B. Letting Go: Conceptualizing Intervention De-implementation in Public Health and Social Service Settings. Am J Community Psychol. 2018;62(1-2):189-202.
  7. Niven DJ, Mrklas KJ, Holodinsky JK, Straus SE, Hemmelgarn BR, Jeffs LP, et al. Towards understanding the de-adoption of low-value clinical practices: a scoping review. BMC Med. 2015;13:255.
  8. Herrera-Perez D, Haslam A, Crain T, Gill J, Livingston C, Kaestner V, et al. A comprehensive review of randomized clinical trials in three medical journals reveals 396 medical reversals. Elife. 2019;8.
  9. Prasad V, Ioannidis JP. Evidence-based de-implementation for contradicted, unproven, and aspiring healthcare practices. Implement Sci. 2014;9:1.
  10. Walsh-Bailey C, Tsai E, Tabak RG, Morshed AB, Norton WE, McKay VR, et al. A scoping review of de-implementation frameworks and models. Implement Sci. 2021;16(1):100.
  11. GGE. gemeinsam gut entscheiden – Choosing Wisely Austria 2025 [Available from: https://gemeinsam-gut-entscheiden.at/.
  12. Koscher-Kien C. REMOVE: De-Implementierung von medizinischen Leistungen mit geringem Wert für die Patient*innen aus einer Systemperspektive 2025 [Available from: https://www.donau-uni.ac.at/de/forschung/projekt/U7_PROJEKT_4294970672.
  13. Bero LA, Grilli R, Grimshaw JM, Harvey E, Oxman AD, Thomson MA. Closing the gap between research and practice: an overview of systematic reviews of interventions to promote the implementation of research findings. The Cochrane Effective Practice and Organization of Care Review Group. Bmj. 1998;317(7156):465-8.
  14. Vollmar HC, Santos S, de Jong A, Meyer G, Wilm S. [How does knowledge reach health care practice? : Implementation research and knowledge circulation]. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 2017;60(10):1139-46.
  15. Buschmann-Steinhage R. Anspruch und Realität praxisrelevanter Rehabilitationsforschung – Multiperspektivische Lösungsansätze für die erfolgreiche Umsetzung von Projektergebnissen: 21. Rehawissenschaftliches Symposium am 30. Oktober 2020 „Transfer zwischen Wissenschaft und Praxis – Chancen und Herausforderungen“; 2020 [Available from: https://bbmd.charite.de/fileadmin/user_upload/microsites/ohne_AZ/m_cc01/bbmd/Veranstaltungen_und_Meldungen/01_Praxisrelevanz_Buschmann-Steinhage.pdf.
  16. Grimshaw JM, Thomas RE, MacLennan G, Fraser C, Ramsay CR, Vale L, et al. Effectiveness and efficiency of guideline dissemination and implementation strategies. Health Technol Assess. 2004;8(6):iii-iv, 1-72.
  17. Durlak JA, DuPre EP. Implementation matters: a review of research on the influence
    of implementation on program outcomes and the factors affecting implementation.
    Am J Community Psychol. 2008;41(3-4):327-50.
  18. Morgan DJ, Brownlee S, Leppin AL, Kressin N, Dhruva SS, Levin L, et al. Setting a research agenda for medical overuse. Bmj. 2015;351:h4534.
  19. Hicks LK. Reframing overuse in health care: time to focus on the harms. J Oncol Pract. 2015;11(3):168-70.

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren:

Weiterlesen

Uniklinikum Salzburg: Verlängerung des Gütesiegels „Selbsthilfefreundliches Krankenhaus“

Der Dachverband Selbsthilfe Salzburg vergab die neuen Gütesiegel zur Verlängerung der Auszeichnung zum „Selbsthilfefreundlichen Krankenhaus“ an die kollegiale Führung und weitere Vertreter des Uniklinikums Salzburg.